Reden wir wieder einmal über Naturwein. Ein Thema, welches die aktuelle Weinszene belagert, ja beinahe erdrückt. Ein Thema, welches mir seit Beginn mässig sympathisch ist, welches ich aber auch nicht ignorieren kann. Anstatt also schlecht darüber zu denken und schreiben, stelle ich mich diesem Trend und rede mit einer Person, die sich damit auskennt: Martin Helfer, Inhaber der Weinhandlung Weinkultur Bern. Nachdem er sich zum Sommelier ausbilden liess, arbeitete er einige Jahre in der Gastronomie, bis er im 2013 beschloss, sich mit einer eigenen Weinhandlung selbstständig zu machen. Seither ist er unterwegs, mit dem Label Weinkultur Bern und der Philosophie, so naturnahe Weine wie möglich zu verkaufen.
Wir treffen uns im Einstein in Bern, trinken Kaffee (es ist 9.30, deshalb kein Glas Wein) und unterhalten uns über das Phänomen Naturwein.
Tinu, wie definierst du guten Wein?
Wenn ein Wein die richtige Säure-Frucht-Balance hat, die Energie stimmt , er vital und frisch wirkt und für regen Trinkfluss sorgt, dann ist es für mich ein guter Wein. Ausserdem mag ich Weine mit eher tieferen Alkoholgehalt. Weine mit 12% erachte ich als eleganter und transparenter als solche mit 14% Vol.
Wie definierst du Naturwein?
Naturwein ist ein Ausdruck, den ich nicht so gerne benutze. Wein ist ein von Menschenhand kultiviertes Produkt. Trauben gären nicht von alleine und werden zu Wein. Deshalb bevorzuge ich die Bezeichnung „naturbelassene Weine“. Naturbelassene Weine sind für mich Weine, die mit möglichst wenig Intervention entstanden sind, das heisst: im Rebberg wird biodynamisch gearbeitet, im Keller wird der Wein «nur» begleitet. Das heisst keine unnötigen Eingriffe während der Gärung, keine Entsäuerung, Filterungen oder Schönungen. Auch auf Schwefel wird während der Kellerarbeit verzichtet. Ganz nach dem Credo «weniger ist mehr».
Worin besteht der grösste Unterschied zu einem konventionellen* Wein?
Wie lange hast du Zeit? (lacht). Nein ernsthaft, ich versuche mich kurz zu halten. Die grössten Unterschiede fangen im Rebberg mit Verzicht auf chemische Spritzungen an, stattdessen setzt der Winzer auf Totalbegrünung und Biodiversität etc. Im Keller wird mit möglichst wenig Intervention gearbeitet. Es werden auf Zusatzstoffe, Schönungen, Filterungen etc. verzichtet. Im «konvetionellen» Weinbau sind im Rebberg chemische Spitzungen erlaubt, z.b. Fungizide, Pestizide, Glyphosat, Herbizide etc. Im Keller dürfen laut EU-Bestimmung über 100 Zusatzstoffe genutzt werden.
Weiss der Konsument, was mit dem Begriff Naturwein gemeint ist?
Immer mehr. Aber die Problematik ist, dass für Wein keine Deklarationspflicht besteht. Der Konsument weiss nicht, was ein konventioneller Wein enthalten darf und er weiss nicht, wie viel Schwefel der Wein hat – es steht ja nur „enthält Sulfit“ und die Alkohol % auf der Etikette.. Aber jeder Wein enthält Sulfit, der natürliche und der zugesetzte Sulfit. Aber Schwefel ist das kleinste Uebel. Die ganzen Zusatzstoffe sind problematisch. Oft werden Zertifizierungen genutzt damit der Konsument einigermassen durchblicken kann. Die Tatsache, dass keine Dekalarationsplicht besteht, macht es für Weintrinker, die gerne nachhaltiger geniessen möchten, sehr kompliziert.
Suggeriert der Ausdruck Naturwein nicht, dass alle anderen Weine unnatürlich sind?
In einem gewissen Sinn ja. Wie gesagt ist der Ausdruck suboptimal, aber immerhin regt er zum Denken an. Was ist denn nicht natürlich an Wein? Es gibt sie halt, die Winzer die mit Zusatzstoffen, z.b. mit Enzymen oder Emulgatoren arbeiten, das ist eine Tatsache. Aber ich möchte hier auch unterstreichen, dass es durchaus auch konventionelle Winzer gibt, die tollen Wein produzieren und auch wenig eingreifen. Diese produzieren auch dementsprechend tolle Qualitäten. Im Übrigen gibt es auch Naturwinzer, die ihr Handwerk nicht verstehen und unsauber arbeiten.
Ist der Ausdruck Naturwein und die damit verbundene Bewegung ein Affront gegen konventionelle Winzer?
Naja, ich finde ein Affront ist es nicht sondern eher eine Alternative. Eine nachhaltige Philosophie und Haltung gegenüber der Natur und der Umwelt. Aber hinter jedem handwerklichen Produkt steht ein Mensch, der mit Herzblut arbeitet. Diesen Produkten und Produzenten sollte man allen Respekt entgegen bringen, auch wenn es konventionelle Winzer sind. Mein Respekt hört allerdings bei Massenweinen auf. Zudem ist für mich ein chemiefreier Rebberg ein Muss.
Wenige brauchen den Begriff Naturwein gerne und trotzdem ist er in aller Munde, wie kommt das?
Man muss es ja irgendwie benennen, sonst kann sich der Konsument nicht orientieren. Der Mensch muss Dinge benennen, weil er es sonst nicht einordnen kann. Ich finde aber, man sollte wegkommen vom Ausdruck Naturwein. Kaum ein Winzer sagt, dass er Naturwein produziert. Er produziert einfach Wein nach seiner Philosophie, immer mit höchstmöglicher Qualität und dessen, was die Natur ihm, je nach Jahr, bietet.
Wir reden überhaupt viel zu viel über Wein, wir sollten ihn öfters einfach hinstellen und auf die Konsumenten wirken lassen, allenfalls noch ein paar Worte über den Winzer oder die Herkunft verlieren, fertig.
Nach bio und biodynamisch folgt jetzt Naturwein. Ein Hype mehr?
Es ist zur Zeit ein Hype, ja. Ich behaupte aber, dass er andauern wird. Die Spitzengastronomie beginnt ebenfalls, mit naturbelassenen Weinen zu arbeiten. Das beeinflusst alle anderen. Es ist eine weltweite Bewegung, die so nicht mehr wegzudenken ist. Aber, das muss man auch sehen, es wird im globalen Markt immer eine Nische bleiben.
Wieso sind naturbelassene Weine vor allem bei Jungen beliebt?
Den älteren Weintrinkern unter uns muss man keinen naturbelassenen Wein servieren wollen, ausser sie seien sehr offen. Wenn du seit 30 Jahren deinen Bordeaux trinkst, ist dein Gaumen auf genau diesen Geschmack konditioniert. Die Jungen hingegen sind weniger vorbelastet, offener für Neues. Ein naturbelassener Wein kann, wenn man es nicht kennt, gewöhnungsbedürftig sein. Da braucht es vielleicht zwei, drei Gläser, bis man sich damit angefreundet hat. Wenn es dann soweit ist, will man nie mehr etwas anderes trinken.
Das musst du genauer erklären…Wieso sollte ich von einem Wein, den ich komisch finde, überhaupt noch ein zweites Glas trinken wollen?
Wir trinken seit x Jahren uniforme Weine, die geschönt und entsäuert wurden. In vielen Restaurants werden weichgespülte Weine serviert, ohne Tiefe, Frische oder Charakter. Massenkonform halt. Naturbelassene Weine haben oft mehr Säure und andere Aromen, es braucht eine gewisse Zeit, bis man sich darauf einlassen und dieses Schublade-Denken aufgeben kann. Der Mensch ist ein «Gewohnheitstier», das ab und zu aus der Komfortzone raus geholt werden sollte.
Was fasziniert dich an naturbelassenen Weinen?
Abgesehen von der Philosophie und den tollen Menschen die dahinter stecken, er tut mir gut. Man bleibt frisch und vital. Weine sollen nicht müde machen, sie sollen beleben! Ausserdem können naturbelassene Weine unglaublich spannend, komplex sein und überraschen. Sie haben Energie, sind lebendig und bekömmlich.
Naturbelassene Weine sind – gemäss Definition der konventionellen Weinlehre – oft fehlerhaft. Stören dich diese Fehler nicht?
Wie definierst du Fehler? In der klassischen Weinlehre ist ein unfiltrierter Wein schon fehlerhaft. Dass naturbelassene Weine anders schmecken, ist normal. Was für mich nicht geht, sind Weine die stinken, was auf einen Fehler im Gärungsprozess deutet – Geruch nach Sauerkraut, Molke oder Nackellackentferner sind typische Anzeichen dafür. Auch wenn es „mäuselt“, habe ich meine Mühe damit. Aber wenn Weine reduktive oder oxidative Noten haben, dann ist das legitim. Je sauberer der Winzer arbeitet und den Wein begleitet, umso weniger Fehler wird er haben. Das erfordert viel Erfahrung und der Winzer muss seine Trauben unglaublich gut kennen.
Gibt es überhaupt Fehler?
Ich weiss zwar, was ein Fehler ist, aber schlussendlich bin ich nicht Winzer. Eine negative Nebenerscheinung des Naturweintrends ist meiner Meinung nach: „Je mehr es stinkt, umso spannender ist der Wein.“ Das sehe ich definitiv nicht so. Die meisten Weine in meinem Sortiment sind elegant und direkt, Fehler in diesem Sinne haben sie keine. Ich akzeptiere es nicht, wenn konventionelle Weine einen Fehler haben und ich finde die gleiche Anforderung darf man auch an naturbelassene Weine stellen. Aber eben, über Fehler lässt sich lange diskutieren – das muss jeder für sich entscheiden, was für ihn als Fehler gilt und was nicht.
Gibt es naturbelassene Weine, die dir nicht gefallen, weil sie einen Fehler haben?
Natürlich! Ich mag nicht einfach alles nur, weil es naturbelassen ist.
„Naturbelassen und gut“ oder „gut und naturbelassen“?
Gut und naturbelassen. Ohne Diskussion.
Man wirft naturbelassen Weinen vor, dass sie sich nicht für die Lagerung eignen. Was für Erfahrungen hast du diesbezüglich gemacht?
Letztes Jahr war ich bei Gut Oggau zum 10 jährigen Jubiläum zu Besuch. Wir haben Weine aus den letzten 10 Jahrgängen getrunken und sogar die einfachen Tropfen waren immer noch super frisch und lebendig. Weine ohne zusätzlichen Schwefel können locker 10 Jahre überleben und dabei noch lebendig wirken. Grundvoraussetzung dafür ist, top Qualität und nur 100% gesundes Traubengut zu verwenden. Das sollte aber der Anspruch jedes Winzers sein. Was die Weine brauchen, ist eine optimale Lagerung, sie können ein Tick heikler sein als konventionelle Weine.
Bei konventionellen Weinen sind die Aromen oftmals deutlicher, sortentypischer. Wieso?
Wegen der Reinzuchthefe, das prägt den Geschmack. Ein Winzer kann mit der passenden Reinzuchthefe den Geschmack des Weines bestimmen. Ein Sauvignon blanc soll gemäss Lehrbuch nach Johannisbeeren, Passionsfrucht und Ananas riechen. Ganz ehrlich, fast jeder Sauvignon blanc schmeckt gleich, weil es das Lehrbuch so vorgibt. Eine Traubensorte wird uniformiert und konform gemacht. Dass eine Traubensorte aber vielseitiger sein kann, vergisst man dabei. Ich kenne viele Winzer, die versuchen dem Geschmack der Traube mehr Raum zu geben, sie haben aufgehört, die Traubensorte auf die Etikette zu schreiben. Einfach weil es keine Rolle spielt.
Bei naturbelassenen Weinen wird der niedrige Schwefelgehalt gefeiert. Ist Schwefel böse?
Nein, Schwefel ist nicht der Teufel, ein wenig Schwefel ist unbedenklich. Die Menge ist entscheidend. Aber Schwefel kastriert den Geschmack, die Weine werden müde und bedeckt. Stell dir vor, du würdest den ganzen Tag Valium einnehmen, dann wärst du wahrscheinlich auch nicht mehr so leistungsfähig. Aber der natürliche Schwefel an sich schadet uns Menschen nicht.
Keine Kopfschmerzen dank wenig Schwefel ist also ein Märchen?
Es ist der Alkohol, der Kopfweh bereitet. Wenn dann noch eine Unverträglichkeit von z.b. Histamin dazu kommt, können Kopfschmerzen entstehen.
Naturbelassener Wein ist in der Weinentwicklung als Rückschritt zu interpretieren. Ist Fortschritt – also konventioneller Weinbau – nicht erstrebenswert?
Fortschritt ja, grundsätzlich ja, nur auch hier ist es eine Frage vom Mass. Das Grundbedürfnis des Menschen ist, nach dem Ursprünglichen zu suchen. Nehmen wir die Lebensmittelindustrie, vieles ist dank Fortschritt möglich, hat aber nichts mehr mit dem ursprünglichen Geschmack zu tun…Das ist doch verrückt. Alles wird geschmacklich verstärkt oder verändert. Und beim Wein ist es nicht anders.
Weg von Photoshop-Weinen, hin zum natürlichen Geschmack – das kann kein Rückschritt sein!
Ich überlasse dir das Schlusswort..
Es soll alles Platz haben auf dem Markt. Aber die Menschen sollten wieder lernen, was Qualität ist, offen für Neues sein und aufhören, Wein immer in ihnen bekannte Geschmacksbilder zu drücken. Lernen, was purer Geschmack bedeutet, die Sinne mehr einsetzen und gute Weine geniessen. Geschmack ist individuell, aber Qualität ist unbestritten.
Und mein Schlusswort…
Im Grunde genommen unterscheiden sich gute konventionelle Winzer nicht von guten Naturwinzern. Beide haben eine Vorstellung, eine Philosophie, wonach sie arbeiten und streben. Sie wollen ein gutes Produkt kreieren. Die einen tragen Sorge zur Natur und wollen ein möglichst naturnahes Produkt schaffen, die anderen schützen sich vor Risiken. Es gibt gute und schlechte konventionelle Winzer und Naturwinzer.
Das Argument mit dem konditionierten Gaumen leuchtet mir ein und erklärt, wieso mir gewisse naturbelassene Weine nicht schmecken. Wichtig finde ich aber die Erkenntnis, dass auch beim naturbelassenen Wein nicht alles toleriert werden muss (z.B. wenns mäuselt).
Eines steht für mich einmal mehr fest: wir müssen nach unserer eigenen Ideologie, mit unserem Gewissen und unserem Gaumen handeln, einkaufen, trinken, und uns nicht von der Meinung anderer blenden lassen. Für mich bedeutet das: 1. ich trinke Weine, die mir schmecken, 2. ich trinke Weine von kleinen Produzenten, 3. ich trinke Weine von regionalen Produzenten 4. ich trinke Weine, die nach biologischen oder biodynamischen Richtlinien produziert wurden 5. ich trinke Weine, die naturbelassen sind.
Meine Reihenfolge, nicht eure. Jeder macht seine eigene. Hauptsache, ihr macht euch die nötigen Gedanken darüber.
*Konventioneller Weinbau: ganz „normaler/traditioneller“ Weinbau, bei dem weder im Rebberg noch im Keller nach biologischen oder biodynamischen Richtlinien gearbeitet wird. Das bedeutet, das Spritzen von Fungiziden und Pestiziden ist erlaubt. Reinzuchthefen werden ebenfalls toleriert und auch das Schönen sowie Filtrieren der Weine, die (Ent)Säuerung oder erhöhte Zugabe von Schwefel wird akzeptiert.